Berlin, 4. Oktober 2003
Ryszard Kapuscinski
Herodot - Reporter der Antike
Meine lieben Freunde,
aus Gründen, die auf der Hand liegen, kann heute ein gewisser Grieche aus Halikarnassos namens Herodot nicht unter Ihnen sein. Er lebte nämlich vor 2 500 Jahren, hinterließ uns aber seine Historien, ein oft gelesenes Werk, das bis auf den heutigen Tag aktuell geblieben ist. Ein Buch, das unter Historikern auch in diesen Tagen noch Kontroversen über die Frage auslöst, was zu Herodots Zeiten in Griechenland und in der Welt tatsächlich geschah und inwieweit die von ihm beschriebenen Tatsachen und Ereignisse mit der historischen Wirklichkeit übereinstimmen.
Ich habe die Historien mehrmals gelesen und mit dem Buch mehrere Kontinente bereist, denn in meinen Augen ist dieses Werk das Musterbeispiel einer Reportage. Ja, Herodot ist für mich der erste Reporter, unser Herr und Meister, der Vorläufer eines Genres, das sich derart kreativ und dynamisch entwickelt.
Woher stammt die Reportage?
Sie speist sich aus drei Quellen, deren erste das Reisen ist. Reisen nicht im Sinne eines Touristenvergnügens oder eines Urlaubs, sondern als einer anstrengenden, mühsamen Entdeckungsfahrt, die durchdachte Vorbereitung, sorgsame Planung und Nachforschung voraussetzt, damit sich vor Ort aus Gesprächen, Dokumenten und Beobachtungen brauchbares Material gewinnen läßt. Eine der Methoden also, deren sich Herodot bediente, um die Welt kennenzulernen. Jahrelang reiste er in die fernsten Winkel der den Griechen bekannten Welt. Er sah Ägypten und Libyen, Persien und Babylon, das Schwarze Meer und die Skythen im Norden. Zu seiner Zeit stellte man sich die Erde als flache Scheibe vor, umgeben von einem mächtigen Strom, dem Okeanos. Und Herodot hatte es sich zum Ziel gesetzt, die flache Scheibe zur Gänze kennenzulernen.
Herodot war allerdings nicht nur der erste Reporter, er war zugleich auch der erste Globalist. Er wußte nur zu gut, wie viele Kulturen es auf der Erde gab, und er war eifrig bestrebt, sie alle kennenzulernen. Warum? Nach seinen Worten kann man die eigene Kultur nur dann wirklich verstehen, wenn man über andere Kulturen informiert ist. Die eigene Kultur offenbart nämlich erst dann ihre ganze Tiefe, Bedeutung und Eigenart, wenn sie gleichsam spiegelbildlich durch jene fremden Kulturen reflektiert wird, die ein helles, durchdringendes Licht auf die eigene Welt werfen und damit helfen, sie besser zu verstehen.
Was hat er mit seiner komparativen Methode der Konfrontation und spiegelbildlichen Reflexion erreicht? Nun, Herodot lehrte seine Landsleute Bescheidenheit, er dämpfte ihren Dünkel, zügelte ihre Anmaßung, ihr Überlegenheitsgefühl, ihre Arroganz gegenüber Nichtgriechen, gegenüber allen Andersartigen. „Ihr behauptet, die Griechen hätten die Götter erfunden? Ganz und gar nicht. Eigentlich habt ihr sie bloß von den Ägyptern übernommen. Ihr behauptet, euer Gemeinwesen sei hervorragend? Die Perser aber haben ein weit besseres Kommunikations- und Transportsystem.“
So versuchte Herodot, mit dem Mittel der Reportage die zentrale Aussage griechischer Ethik zu untermauern, die Zurückhaltung fordert, ein Gespür für Proportion und Mäßigung.
Ein weiterer Quell für die Reportage ist neben dem Reisen der Mensch selbst, jene Menschen, denen man unterwegs begegnet, aber auch jene, zu denen wir reisen, damit sie uns ihr Wissen, ihre Geschichten und Ansichten mitteilen. In dieser Hinsicht scheint Herodot ein maître extraordinaire gewesen zu sein, und nach dem zu urteilen, was er schrieb, wen er traf und wie er mit ihnen redete, dürfte er ein Mann gewesen sein, der anderen gegenüber offen und gutwillig war, der rasch Kontakt mit Fremden schloß, Neugier auf die Welt, Interesse und Wißbegier zeigte. Wir ahnen, wie er sich verhielt, wie er redete, fragte und zuhörte. Seine Haltung verrät zudem, was für einen Reporter von zentraler Bedeutung ist: Respekt für den Mitmenschen, für seine Würde und seine Verdienste. Aufmerksam lauschte er dem Herzschlag und der Eigenart fremder Gedanken.
Herodot kannte die Schwäche des menschlichen Gedächtnisses, und er wußte auch, daß seine Gesprächspartner oft voneinander abweichende und gar widersprüchliche Versionen desselben Ereignisses zum Besten gaben. In dem Versuch, unparteiisch und objektiv zu sein, räumte er dem Leser gewissenhaft die Möglichkeit ein, sich anhand der extremsten Varianten und Abweichungen derselben Geschichte eine eigene Meinung zu bilden. Und das läßt seine Berichte so multidimensional, reichhaltig, lebendig und leicht faßlich erscheinen. Herodot war ein unermüdlicher Reporter. Er machte sich die Mühe, aberhunderte Kilometer übers Wasser, zu Pferde oder einfach zu Fuß zurückzulegen, um sich eine andere Version eines vergangenen Ereignisses anzuhören. Er suchte Wissen, unabhängig von dem Preis, den er dafür zu zahlen hatte, und er wollte höchst authentisches Wissen, das der Wahrheit möglichst nahekam. Nur die besten Reporter können sich dieser Gewissenhaftigkeit rühmen, die auf unsere Verantwortung für unsere Worte und unsere Taten verweist.
Der dritte Quell der Reportage ist, was ich die Hausarbeit des Reporters nennen möchte: Lesen, was geschrieben wurde und als Text, Inschrift oder graphisches Symbol zu dem Thema überdauerte, mit dem der Reporter sich befaßt. Herodot lehrt uns auch, wie man recherchiert und wie vorsichtig man sein muß. Zu seiner Zeit war die Materialmenge, auf die er zurückgreifen konnte, wesentlich kleiner als das, was heutzutage verfügbar ist. Daher war wertvoll, was immer er zu einem Thema zusammentragen konnte. Natürlich kannte er Homer und Hesiod, die Dichter und die Dramatiker. Er konnte Inschriften auf Tempel- und Stadtmauern entziffern. Alles war in seinen Augen wichtig und konnte eine Nachricht, eine neue Bedeutung offenbaren. Durch sein Beispiel bewies Herodot, daß ein Reporter ein sorgsamer Beobachter sein muß, daß ihn auch anscheinend unwichtige, banale Details interessieren müssen, da sie sich als Symbole oder Zeichen weit wichtigerer Welten erweisen können.
„Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen“, lautet der Satz, mit dem Aristoteles – nur wenige Jahre jünger als Herodot – seine Metaphysik beginnt, um dann hinzuzufügen, daß dem Auge die wichtigste Rolle zukomme, da es am besten Unterschiede erkennen könne. Wir wissen natürlich, wie wichtig das Auge des Reporters ist, das scharf und konzentriert wahrnimmt, was unsichtbar scheint, und doch oft die andere, meist wichtigere Seite eines Phänomens aufzeigt. Nachteilig ist, daß derjenige, der das Wichtigere wahrnehmen will, gewöhnlich vor Ort sein muß. Und um dahin zu gelangen, muß man eine Fahrt, eine Reise unternehmen. Diese Reisen aber, die nötige Gegenwart vor Ort, erlaubten es Herodot, jene großartigen Reportagen zu schreiben, die wir nun seit zweieinhalbtausend Jahren mit glühenden Wangen lesen.
Die Reportage entsteht aus dem, was Aristoteles das „Streben nach Wissen“ nannte. Und dieses menschliche Verlangen umfaßt gleichermaßen die Leidenschaft der Reporter wie die Erwartung ihrer Leser, Zuhörer oder Zuschauer. Ein vom „Streben nach Wissen“ getriebener Reporter kommt der Neugier seiner Leser, ihrem eigenem „Streben nach Wissen“, auf halbem Wege entgegen.
Und an eben dieser Stelle müssen wir auch nach einer Antwort auf die Frage suchen, warum eine gute Reportage in der heutigen Welt so geschätzt wird. Offenbar liegt es daran, daß der moderne Mensch in einer durch die Medien heraufbeschworenen Welt der Illusionen und des äußeren Anscheins, der Simulacren und Fabeln lebt. Er spürt instinktiv, daß er mit Falschem abgespeist wird, mit Scheinheiligkeit, Unechtem und virtueller Manipulation, weshalb er etwas sucht, dem die Macht eines Dokuments, der Wahrheit und Wirklichkeit anhaftet.
Ich erlebe dies bei Begegnungen mit meinen eigenen Lesern. Wenn ich von einem Abenteuer auf einer meiner Reportagereisen erzähle, unterbricht mich nicht selten ein Zuhörer im Saal mit der Frage: „Ist das auch wahr?“ Und sobald ich der Person versichere, daß ich wirklich dort gewesen bin, erfaßt das Publikum eine Welle der Erleichterung, und eine freundliche Atmosphäre breitet sich aus. Endlich nehmen sie an etwas Echtem teil: Derjenige, der selbst Zeuge war und dabeigewesen ist, steht leibhaftig vor ihnen.
Was also ist eine literarische Reportage? Wie wird sie definiert, wie beschrieben? Die Antwort darauf fällt nicht leicht, da wir in einer Zeit leben, die Cliffort Geertz als eine Ära „verschwimmender Genres“ bezeichnet, eine neue Spezies. Was der Anthropologe nur eilig mit den Worten ergänzen kann: „Neues ist qua definitionem schwer zu klassifizieren.“
In den langen Jahren, die ich in Ländern der Dritten Welt als Korrespondent einer Presseagentur tätig war, plagte mich eine Unzufriedenheit, die daher rührte, daß sich die Sprache der Presse oft als äußerst unzureichend erwies im Angesicht der mannigfaltigen, abwechslungsreichen, farbenfrohen, oft nur schwer zu definierenden Realität fremder Kulturen, Bräuche oder Religionen. Die tägliche, in den Medien verwendete Sprache der Information ist armselig, stereotyp und formelhaft. Deshalb bleiben riesige Bereiche einer uns betreffenden, doch mit keiner formalisierten Nachricht übermittelbaren Wirklichkeit jenseits des Beschreibbaren. Wie finden wir also aus der Sackgasse dieses Mißbehagens, dieser Unzufriedenheit heraus?
Ich habe mir die Anregungen von Schriftstellern wie Truman Capote, Norman Mailer oder Gabriel García Márquez zu eigen gemacht, deren Literatur die Kluft zwischen Fiktion und Pressebericht überbrückt. Sie haben den Begriff New Journalism oder Nuevo Periodismo geprägt, mit dem sie eine Art zu schreiben meinen, die es erlaubt, authentische Erlebnisse, wahre Geschichten und Vorfälle mit einer Sprache zu schildern, die persönliche Ansichten und Reaktionen des Autors zuläßt, oft – gleichsam als zusätzliche Farbtupfer – sogar literarische Anmerkungen oder Einschübe, die nach Art und Weise eines Romans verfaßt werden. Diese kreative und derart veredelte Kombination zweier verschiedener Arten und Weisen des Kommunizierens und Beschreibens macht die Kunst der literarischen Reportage aus.
Mit ihr setzte ein fröhliches und fruchtbares „Verschwimmen der Genres“ ein, vor allem angesichts des Fortschritts in Wissenschaft und Technologie, der unser Bild von der Welt enorm bereichert und differenziert hat, ein Bild, das folglich mit Sprache allein immer schwerer zu fassen ist. Ich habe es selbst erfahren, als ich Afrikanisches Fieber schrieb. Wie beschreibt man den Dschungel in der Sprache einer Presseverlautbarung? Es ist schlicht unmöglich; man muß dazu auf den Schatz der belles-lettres zurückgreifen, auf seine große Ausdrucksvielfalt. Allerdings macht sich die Literatur heute im Gegenzug auch unaufhörlich die Sprache der Reportage zu eigen. Man denke nur daran, wie viele Reporter zu den Helden eines Romans wurden, wie viele längst klassische Passagen, wie viele Dialoge im Reportagestil geschrieben sind.
In unserer multikulturellen Welt verlangen die Menschen anderer Kulturen, gleichwertig behandelt zu werden, sie verlangen denselben Respekt, den wir für uns erwarten, dasselbe Ansehen. Es ist eine altbekannte Tatsache, daß es keine hohen und niedrigen Kulturen gibt, da die Unterschiede nur das Ergebnis der jeweils geographischen Lage und historischen Bedingungen sind.
Leider wissen wir nur sehr wenig über andere Kulturen, und statt mit gründlichem Wissen geben wir uns nur allzu leicht mit einfachen oder falschen Stereotypen zufrieden. Herodot wußte dies nur zu gut. Er wußte auch, daß Verstehen und Verständigung allein durch beidseitige Kenntnis möglich wird, daß sie der einzige Weg zu Frieden und Harmonie, Kommunikation und Zusammenarbeit ist. Mit diesem Wissen stürzt sich der Reporter in einen Strudel von Aktivitäten: reisen, nachforschen, notieren und erklären, warum andere sich anders benehmen, und zeigen, daß diesen anderen Weisen der Existenz und des Weltverständnisses eine eigene Logik innewohnt, daß sie vernünftig sind und akzeptiert werden sollten, statt zu Aggression und Krieg zu führen.
Somit ist offenkundig, welche Verantwortung unseren Reportagen zukommt. Wenn wir unserem Gewerbe nachgehen, sind wir nicht bloß Männer und Frauen der Schrift, sondern auch so etwas wie Missionare, Übersetzer und Botschafter. Zwar übersetzen wir nicht von einer Sprache in eine andere, dafür aber von einer Kultur in eine andere, auf daß beide sich besser verstehen und somit enger, gar freundlicher zusammenleben können. Wie ein Reporter China beschreibt, beeinflußt letztlich die Haltung seiner Leser zu China und zu den Chinesen. Gleiches gilt letztlich für alle anderen Themen. Deshalb dürfen wir die menschlichen und humanitären Konsequenzen unserer Reportagen niemals vergessen.
Verehrte Damen und Herren,
auffällig ist nicht allein die Abwesenheit Herodots in unserer Mitte, sondern auch die einer treibenden Kraft der modernen Reportage, eines Mannes, der hier, in der Straße Unter den Linden in Berlin, so oft in seinem Lieblingscafé saß – ich spreche von Egon Erwin Kisch. Wie froh wäre er, erführe er von der durch Lettre International ermöglichten internationalen Ehrung der Kunst der Reportage. Er war ein begeisterter Anhänger dieses besonderen Genres und schrieb viele Bücher mit Reportagen, darunter auch jene großartige Anthologie Klassischer Journalismus, die 1923 hier in Berlin veröffentlicht wurde und die Beispiele der Werke von Plinius dem Jüngeren ebenso einschloß wie Arbeiten von Charles Dickens, Émile Zola oder Henry M. Stanley. Kisch hat oft betont, daß unser Gewerbe Leidenschaft verlange, Neugierde auf die Welt und ihre Menschen, Sorgfalt, Hingabe und einen unstillbaren Hunger nach Wissen. Eben diese Eigenschaften waren auch charakteristisch für Herodot.
Seine Historien haben übrigens eine gleichsam entscheidende Rolle bei einem Ereignis gespielt, das mir vor Jahren widerfuhr. 1964 gab es in Ghana einen Militärputsch. Die Rebellenarmee stürzte Kwame Nkrumah, den Präsidenten des Landes. Ich hielt mich gerade in Nigeria auf und fuhr, kaum war die Nachricht zu mir durchgedrungen, mit dem Wagen nach Ghana. Ich konnte die Grenze ungehindert passieren, doch wurde ich unmittelbar vor Accra von einer Militärpatrouille aufgehalten. Die Soldaten durchsuchten mein Gepäck, und einer von ihnen entdeckte Herodots Historien und Agatha Christies Der blaue Expreß. Ich weiß nicht, ob es daran lag, daß ihm Herodot zu schwierig schien, oder daran, daß er den Titel Der blaue Expreß faszinierender fand, jedenfalls beschlagnahmte er nach kurzem Zögern den Roman von Agatha Christie, für den zudem noch ein greller Einband sprach. Ich seufzte erleichtert auf. Herodot durfte bei mir bleiben.
AUS DEM ENGLISCHEN VON BERNHARD ROBBEN
Rede anlässlich der Verleihung des Lettre Ulysses Award für die Kunst der Reportage am 4. Oktober 2003 in Berlin.
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